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Verseuchter Käse brachte sieben Menschen den Tod. Wie sicher sind Produkte aus dem Supermarkt? Die Lücken in der deutschen Lebensmittelüberwachung haben System, sagen Experten. Von Sönke Wiese
Tausende Produkte liegen in den Regalen eines großen Supermarkts, unzählige Fisch- und Fleischsorten, Milchprodukte, Obst und Gemüse. Nicht alles ist gesund, manche Lebensmittel sind sogar regelrecht verseucht - mit Pestiziden, giftigen Zusatzstoffen oder Krankheitserregern. Immer wieder gibt es Lebensmittelskandale, doch nur selten wiegen die Folgen so schwer wie jüngst, als von Listerien befallener Käse aus Österreich in Supermarktregale gelangte. Die Bakterien brachten bislang sieben Menschen den Tod. Der Fall wirft beunruhigende Fragen auf: Wie sicher sind die Lebensmittel, die wir täglich im Supermarkt einkaufen? Wie oft werden sie kontrolliert? Und wo lauern die größten Gefahren?
Die staatliche Überwachung ist lockerer, als man es in einem Land wie Deutschland erwarten würde, wo sonst alles genauestens normiert und kontrolliert wird. Experten beklagen offenkundige Unzulänglichkeiten der Überwachung. "Lebensmittelsicherheit ist in Deutschland eine Mogelpackung", sagt Harry Sauer, Vize-Chef des Bundesverbands der Lebensmittelkontrolleure. "Die meisten Skandale kommen nicht durch die amtliche Lebensmittelkontrolle ans Licht, sondern durch Journalisten oder Verbraucherschützer", sagt Angelika Michel-Drees, Referentin für Lebensmittelqualität beim Bundesverband der Verbraucherzentralen.
Kritiker haben drei zentrale Mängel ausgemacht.
Problem Nummer eins: Zu wenig Personal
2500 amtliche Lebensmittelkontrolleure sind für über eine Million Betriebe zuständig; für Molkereien, Schlachtbetriebe, Cafés, Restaurants, Currywurstbuden, Spediteure, Kioske, Supermärkte. Bei diesen Zahlenverhältnissen wird sofort klar: Eine engmaschige Überwachung ist Utopie, viele Produkte können niemals überprüft werden. 2008 fanden laut Jahresbericht des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) in 542.000 Betrieben Kontrollen statt, also gerade einmal bei rund der Hälfte. "Bei einigen sind wir fast täglich, bei anderen nur alle drei Jahre", sagt Harry Sauer.
Hundertprozentige Sicherheit könne es zwar nie geben. "Aber wir bräuchten 1500 weitere Lebensmittelkontrolleure, um wenigstens den Kontrolldruck entscheidend zu erhöhen." Doch dafür fehle der politische Wille. "Man hangelt sich von Skandal zu Skandal und vertraut darauf, dass die Mogelpackung Lebensmittelsicherheit unentdeckt bleibt." Verbraucherschützerin Angelika Michel-Drees sagt, nur vorübergehend hätte die Politik mehr Mittel locker gemacht. "Nach dem BSE-Skandal nahm man Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Deutschland ernster, aber im Laufe der Zeit hat das wieder abgenommen." Nun leide die Überwachung wieder unter personellen und finanziellen Engpässen.
Problem Nummer zwei: Die zersplitterte Organisation
Für die Not an der Front sind letztlich die Bundesländer und Gemeinden verantwortlich. Dort werde die Lebensmittelüberwachung nur noch "nach Kassenlage verwaltet", sagt Harry Sauer. Die dezentrale Organisation sehen Kritiker als großes Problem. Der Bund macht zwar Vorgaben, doch für die Umsetzung sind die Bundesländer zuständig, und die wiederum delegieren die Lebensmittelkontrolle an kommunale Behörden auf Landkreisebene. Das führe zu "völlig zersplitterten Strukturen" und "unterschiedlichen Qualitätsstandards" kritisiert Sauer. "Der Föderalismus bremst die einheitliche Überwachung aus."
Derzeit müssen sich die kommunalen Kontrolleure lediglich nach Quoten und vagen Vorgaben richten. So sollen beispielsweise fünf Lebensmittelproben pro 1000 Einwohner im Labor untersucht werden. In einer Großstadt wie Köln wären das 5000 Proben pro Jahr. Das kommt einem Stochern im Nebel gleich, zumal die Untersuchungen nicht einmal bundesweit koordiniert werden. Sinnvoller wäre ohnehin eine Quote, die sich auf die Anzahl der Betriebe oder die Menge der Lebensmittel bezieht.
Gar keine konkreten Vorgaben gibt es für die Betriebskontrollen, also die Besuche der Kontrolleure vor Ort. Sie sollen lediglich risikoorientiert vorgehen, also beispielsweise Hersteller verderblicher Ware häufiger kontrollieren als einen Kiosk. Dass die Überwachung in kommunaler Hand liegt, empfindet Foodwatch-Chef Thilo Bode als problematisch. "Ein Landrat überlegt sich doch zehnmal, ob er ein wichtiges Unternehmen stilllegt."
So fordert auch die Berliner Verbraucherschützerin Angelika Michel-Drees mehr Kompetenzen für übergeordnete Instanzen. "Das BVL sollte die Zuständigkeit bekommen, für gleiche Standards und Strukturen der Lebensmittelkontrolle auf Länderebene zu sorgen und die Einhaltung bundesweit zu überwachen. Wir brauchen überall ein gleich hohes Niveau der Lebensmittelsicherheit."
Dagegen sieht das Verbraucherschutzministerium unter Ilse Aigner (CSU) keinen Handlungsbedarf. Es könnte zwar sein, dass die Verfahren in den Ländern "nicht hundertprozentig identisch" seien. Jedoch würden alle kommunalen Kontrollbehörden von den Regierungspräsidien der Bundesländer überwacht, die nach gemeinsam ausgearbeiteten Standards vorgingen. "Der Bund hat hier keinerlei Weisungsrecht oder Eingriffskompetenzen", sagt eine Sprecherin des Ministeriums.
Einen Schritt in die richtige Richtung haben nur zwei Bundesländer gemacht. Bayern installierte im Mai 2006 nach einer Reihe von Gammelfleischskandalen eine landesweit agierende Spezialeinheit, und im Saarland wurde die Zuständigkeit für die Lebensmittelüberwachung von der kommunalen auf die Landesebene gehoben.
Problem Nummer drei: Mangelnde Information der Öffentlichkeit
Der BVL-Jahresbericht ist vollgestopft mit Daten, Zahlen und Grafiken. Man erfährt, dass es 2008 deutschlandweit bei 55.000 von insgesamt 407.000 Laborproben Beanstandungen gegeben hat. Auch die Verstoßquoten in den einzelnen Produktgruppen sind aufgeführt: Bei Fleisch gab es 19,2 Prozent Beanstandungen, bei Obst und Gemüse 8,4 Prozent, bei Fisch 11,5 Prozent, bei Eiprodukten 16,2 Prozent, bei Milchprodukten 11,9 Prozent. Die erschreckend vielen Verstöße provozieren Fragen: Was genau fiel bei den Kontrollen durch und warum? War eine Supermarktkette besonders häufig unter den Sündern? Gab es eine regionale Ballung?
Doch diese relevanten Informationen liefert der 127 Seiten starke Bericht nicht, das BVL verweist auf Nachfrage von stern.de an die Landesbehörden. Die rücken aber ebenso wenig mit den Namen der beanstandeten Betriebe oder Details zu verseuchten Lebensmitteln heraus; alles bleibt anonymisiert.
Bei Fleischprodukten kommen zusätzlich Veterinäre zum Einsatz: Sie müssen vor der Schlachtung jedes Tier begutachten, ob es gesund ist. Solch eine strenge Kontrolle gibt es bei keiner anderen Produktgruppe.
Bei Lebensmitteln, die importiert werden, wird der Zoll hinzugezogen. Er arbeitet mit den kommunalen Kontrolleuren zusammen und kann Ware aufhalten. Bei Verstößen wird der Importeur zur Verantwortung gezogen.
Vergeblich verlangen Verbraucherschützer seit Jahren, dass bei gefährlichen Produkten Ross und Reiter genannt werden. "Unsere Forderung wird mit immer derselben Litanei abgelehnt: Man müsse Betriebsgeheimnisse wahren, man dürfe niemanden an den Pranger stellen, der Betrieb könnte in eine wirtschaftliche Schieflage geraten", sagt Angelika Michel-Drees.
Wie ein Fanal wirkt immer noch der Birkel-Skandal. Mitte der 1980er Jahre warnte das Stuttgarter Regierungspräsidium vor verseuchten Eiprodukten in Birkel-Nudeln. Die Firma strengte eine Schadensersatzklage an, am Ende musste Baden-Württemberg in einem Vergleich 12,8 Millionen Mark zahlen. Erst viele Jahre später deckte der stern auf, dass die Vorwürfe tatsächlich stimmten. Dennoch: Seit dem Birkel-Skandal halten sich viele Behörden offenkundig bei Maßnahmen zurück, die möglicherweise Schaden für die Wirtschaft bedeuten.
Besonders gefährliche Fälle melden die Landesbehörden dem BVL, das sie an das Europäische Schnellwarnsystem weiterleitet. Auch der mit Listerien verseuchte Käse aus Österreich wurde dort gemeldet. Allein im Februar 2010 wurden dort Dutzende Fälle aus Deutschland verzeichnet. Sie sind eine wahre Ekelliste, eine kleine Auswahl: Calciumcarbonat in Säuglingsnahrung (17. Februar), Schimmelpilzbefall bei Schokoladen-Desserts (8.Februar), Listerien in Brie-Käse (4. Februar), Aluminium in Glasnudeln (3. Februar), Salmonellen in Schweinefleisch (2. Februar).
Zwar werden diese Produkte umgehend aus dem Handel entfernt, doch in den meisten Fällen bekommt die Öffentlichkeit davon nichts mit. Auch in dieser Liste bleiben die Meldungen komplett anonymisiert. Bei akuten Gesundheitsgefahren sollen die zuständigen Ämter zwar öffentliche Warnungen aussprechen - sie müssen aber nicht. Michel-Drees weiß: "Der Druck der Wirtschaft ist oft so groß, dass die Behörden die Öffentlichkeit nicht über Verfehlungen informieren."
Immerhin: Aigners Verbraucherschutzministerium will sich dafür einsetzen, zumindest Wiederholungstäter künftig zu veröffentlichen. Man prüfe derzeit die Möglichkeiten, die dazu das Verbraucherschutzinformationsgesetz hergebe, sagt eine Sprecherin. Vorbild dafür ist der Berliner Bezirk Pankow: Dort landen gastronomische Betriebe, die durch mehrmalige Verstöße auffallen, auf einer Negativliste im Internet.
In der Branche gibt es nämlich besonders viele Wiederholungstäter. Bislang müssen die Unternehmen keinen Imageschaden und Umsatzverluste befürchten, weil die Konsumenten in den meisten Fällen nicht erfahren, wer die schwarzen Schafe sind. Eine konsequente Veröffentlichung der Sünder wie in Berlin-Pankow hätte mehr Effekt als Hunderte von zusätzlichen Kontrolleuren, meint Thilo Bode. Doch der Foodwatch-Chef glaubt nicht daran, dass das Projekt einmal bundesweit Schule macht. "Hier gelten die Interessen der Unternehmen mehr als der Verbraucherschutz."